Somatic Experiencing (SE) wurde in den 1970er Jahren von Dr. Peter Levine, einem Pionier der Traumatherapie, entwickelt. Levine, der sowohl in Biophysik als auch in Psychologie promoviert hat, beobachtete in seiner Forschung, dass Tiere in der Wildnis, obwohl sie regelmäßig von lebensbedrohlichen Situationen konfrontiert werden, selten an Traumafolgestörungen leiden. Er stellte fest, dass Tiere nach einem Schockereignis spezifische Bewegungs- und Entladungsmuster zeigen, die ihnen helfen, den erlebten Stress zu verarbeiten. Levine erkannte, dass Menschen diese natürliche Fähigkeit zur Selbstregulierung ebenfalls in sich tragen, aber durch soziale Normen oder das Nervensystem oft daran gehindert werden, diesen Prozess vollständig zu durchlaufen. Auf dieser Grundlage entwickelte er Somatic Experiencing, eine Methode, die Menschen hilft, unbewusste körperliche und emotionale Spannungen, die in Folge eines Traumas entstanden sind, aufzulösen.
Grundhaltungen und Absichten von Somatic Experiencing
Im Zentrum von Somatic Experiencing steht die Überzeugung, dass der Körper der Schlüssel zur Auflösung von traumatischem Stress ist. Die Grundhaltung der Methode ist geprägt von Achtsamkeit, Geduld und dem respektvollen Umgang mit den individuellen Grenzen des Klienten. SE zielt darauf ab, das autonome Nervensystem (ANS) wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Trauma wird als eine Dysregulation des Nervensystems verstanden, bei der der Körper in einem Zustand der Übererregung (sympathisches Nervensystem: Kampf oder Flucht) oder der Untererregung (parasympathisches Nervensystem: Erstarrung oder Kollaps) verharrt.
Die Psychotraumatologie, auf der SE basiert, beschäftigt sich mit den psychischen und körperlichen Auswirkungen von traumatischen Erlebnissen. In der SE-Therapie geht es darum, den "eingefrorenen" Überlebensimpuls im Nervensystem zu befreien und die natürliche Selbstregulation des Körpers zu unterstützen. Dies geschieht nicht durch das bloße Wiedererleben des Traumas, sondern durch das bewusste Wahrnehmen von Körperempfindungen, die mit dem Trauma verbunden sind, und das schrittweise Entladen der gespeicherten Energie..
Methodische Ansätze und Theorien
Die Grundlage von Somatic Experiencing beruht auf der Theorie, dass traumatische Erfahrungen oft nicht vollständig verarbeitet werden und als "eingefrorene" Energie im Körper verbleiben. Diese nicht entladene Energie kann zu körperlichen, emotionalen und psychischen Symptomen führen, die oft als posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert werden. SE arbeitet mit sogenannten "Titrierung" und "Pendulation". Titrierung bedeutet, dass der Klient das Trauma in sehr kleinen, dosierten Schritten erkundet, um das Nervensystem nicht zu überwältigen. Pendulation bezieht sich auf das sanfte Hin- und Herbewegen zwischen den Zuständen von Anspannung und Entspannung, was dem Körper hilft, sich sicher zu fühlen und gespeicherte Energie loszulassen.
Dr. Levine betont in seiner Arbeit auch die Bedeutung des "Vervollständigungsimpulses". Das bedeutet, dass das Nervensystem die Gelegenheit bekommt, eine unterbrochene Überlebensreaktion (z.B. Flucht oder Kampf) in einer sicheren Umgebung zu beenden. Durch diese vollständige Erfahrung kann der Körper die traumatische Erfahrung abschließen und zur Homöostase, dem Gleichgewichtszustand, zurückkehren.
Die konkrete Arbeitsweise von Somatic Experiencing
In einer SE-Sitzung wird der Klient ermutigt, die Empfindungen seines Körpers zu beobachten und sich auf subtile Veränderungen zu konzentrieren. Der Therapeut begleitet diesen Prozess achtsam, ohne den Klienten zu drängen, das Trauma direkt zu benennen oder die belastenden Erlebnisse im Detail zu besprechen. Stattdessen wird der Fokus auf das "Hier und Jetzt" gerichtet – darauf, wie der Körper sich anfühlt und welche inneren Prozesse spürbar werden.
Die Arbeit erfolgt in kleinen Schritten. Zum Beispiel könnte ein Klient eine leichte Spannung im Bauchraum bemerken. Der Therapeut könnte den Klienten dann bitten, sanft bei dieser Empfindung zu verweilen, bis sie sich verändert – vielleicht in Form von Wärme, einem Kribbeln oder dem Bedürfnis, tief zu atmen. Dieser Prozess der achtsamen Wahrnehmung und Entladung ermöglicht es dem Nervensystem, sich allmählich zu regulieren und die "eingefrorene" Energie des Traumas freizusetzen. Im Unterschied zu vielen anderen Therapien geht es nicht um das Reden über das Trauma, sondern um das achtsame Erspüren, wie der Körper auf subtile Weise reagiert.
Ein praktisches Beispiel: Die Befreiung aus der Starre
Anna, eine junge Frau, litt seit einem schweren Autounfall unter Panikattacken und Schlaflosigkeit. In ihrer ersten SE-Sitzung bemerkte sie, dass ihre Hände ständig kalt und taub waren – ein Zeichen dafür, dass ihr Nervensystem in einem Zustand von Erstarrung verharrte. In der SE-Sitzung wurde sie gebeten, ihre Hände achtsam zu spüren und sanft wahrzunehmen, ob es irgendwo in ihrem Körper Wärme oder Bewegung gab. Nach einigen Minuten bemerkte sie ein leichtes Kribbeln in den Fingerspitzen. Sie wurde ermutigt, diesem Empfinden zu folgen, ohne es zu forcieren.
Nach einigen weiteren Sitzungen konnte Anna die Starre allmählich loslassen. Sie spürte wieder Energie in ihrem Körper und begann, tiefer zu atmen. Ihre Panikattacken nahmen ab, und sie fühlte sich lebendiger und verbundener mit sich selbst.
Die Rolle der Polyvagal-Theorie und des Vagusnervs
Die Arbeit mit dem autonomen Nervensystem, speziell dem Vagusnerv, spielt in der Somatic Experiencing-Therapie eine zentrale Rolle. Die Polyvagal-Theorie, entwickelt von Dr. Stephen Porges, bietet eine tiefgehende Erklärung dafür, wie das Nervensystem auf Bedrohungen reagiert und wie Heilung durch gezielte Unterstützung der Selbstregulation erfolgen kann.
Laut der Polyvagal-Theorie besteht das autonome Nervensystem nicht nur aus den klassischen "Kampf-oder-Flucht"-Reaktionen des sympathischen Nervensystems und der Erstarrung durch das parasympathische System. Es gibt auch eine dritte Ebene, die für soziale Interaktionen und das Gefühl von Sicherheit verantwortlich ist: das ventrale System des Vagusnervs. Der Vagusnerv, der vom Hirnstamm bis zu den wichtigsten Organen im Körper reicht, reguliert nicht nur Herz- und Atemfrequenz, sondern ist auch stark an der emotionalen Selbstregulation beteiligt.
Wenn Anna nach ihrem Unfall in einen Zustand der Erstarrung verfiel, war dies ein Hinweis darauf, dass ihr dorsaler Vagusnerv – der Teil des parasympathischen Nervensystems, der für eine tiefe, schützende Rückzugshaltung verantwortlich ist – dominant aktiv war. Dieser Mechanismus schützt den Körper in extremen Gefahrensituationen, kann jedoch im Fall von Trauma chronisch aktiv bleiben. Die Kälte und Taubheit in Annas Händen war ein körperliches Zeichen dieses Zustands.
Der Vagusnerv spielt auch eine zentrale Rolle im Prozess der Heilung. Durch gezielte SE-Methoden wird der ventrale Vagusnerv angesprochen, der mit positiven sozialen Interaktionen und dem Gefühl von Sicherheit in Verbindung steht. Durch die sanfte Wahrnehmung von Empfindungen, wie das Kribbeln in Annas Fingerspitzen, wurde ihr Nervensystem schrittweise vom Überlebensmodus in einen Zustand von Sicherheit und Entspannung geführt.
Die Aktivierung des ventralen Vagusnervs ist essentiell, um das Nervensystem aus dem Trauma herauszuführen und die natürliche Balance wiederherzustellen. Somatic Experiencing unterstützt diesen Prozess, indem es das Bewusstsein auf die inneren Körperprozesse lenkt und den Körper ermutigt, schrittweise in den Zustand der Selbstregulation und sozialen Verbundenheit zurückzukehren. So konnte Anna ihre Panikattacken allmählich reduzieren, indem ihr Körper lernte, sich selbst wieder in Sicherheit zu fühlen.
Literaturempfehlungen
1. "Trauma und Gedächtnis: Die Spuren unserer Erinnerung und wie wir sie zum Heilen nutzen" von Peter A. Levine
2. "Verkörperter Schrecken: Trauma und Heilung" von Bessel van der Kolk
3. "Das Erwachen des Tigers: Unsere Fähigkeit, Traumata zu transformieren" von Peter A. Levine
4. "Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit" von Stephen Porges
5. "Im Körper verankert: Trauma und die Weisheit des Körpers" von Pat Ogden
Diese Bücher bieten tiefe Einblicke in die Mechanismen von Trauma, die Rolle des Körpers in der Heilung und konkrete Ansätze zur Traumabewältigung. Sie sind wertvolle Ressourcen für alle, die sich mit dem Thema Trauma auseinandersetzen und Heilung finden wollen.
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